Urs letzte Autofahrt

 

 

Urs war unauffällig, korrekt und anständig. Nachbarn bezeugten ihm einen guten Leumund, dass er seinen Garten leidlich pflegte und sein Gemeinderatsamt in bester Manier ausübte. An der Arbeit wurde Urs für seine Präzision geschätzt, seine Pünktlichkeit, seinen Scharfsinn und die Fähigkeit, in schwierigen Verhandlungen Ruhe zu bewahren. Man darf objektiv betrachtet sagen, dass er schon fast einen Hang zum Büenzli hatte, nicht auffallen wollte und es ihm deshalb peinlich war, wenn ein grosses Tamtam an seinem Geburtstag veranstaltet wurde. An einem Fussballmatch konnte sich Urs gerade mal zu einem etwas lauteren Bravo! überwinden, ansonsten verharrte er stoisch das ganze Spiel über. Steuern zahlte er, ohne mit der Wimper zu zucken. Abstimmen war ihm wie der Militärdienst eine selbstverständliche Pflicht. Logisch, dass er stets via den Zebrastreifen und niemals einen Meter daneben die Strasse überquerte, wie gäbig Letzteres auch gewesen wäre. Die Spritzen beim Zahnarzt wurden ungerührt ertragen, wie auch die Nachmittage bei der Schwiegermutter am Sonntag. Einem Nickerchen konnte er aus Praktikabilität viel abgewinnen, Nostalgie hingegen war ihm fremd. Ferien machte Urs mit Kind und Kegel und wurde fast schon euphorisch, wenn es ums Planen von Wanderungen und Stadtbesichtigungen ging. Er war geradlinig und stockschweizerisch, trug schwarze Socken und band die Krawatte im Schlaf. Urs war kurz gesagt der Verschnitt eines braven Bürgers mit einem Schuss Langeweile und trockenem Humor, sehr trockenem Humor.

Eigentlich war Urs ein lieber Kerl, der keiner Fliege etwas zuleide tun konnte. Es gab da hingegen einen Umstand, der Urs zum tobenden Wütling mutieren liess. Ja richtiggehend unflätig und ausfallend wurde er und war nicht wieder zu erkennen! Kein Mensch hätte geglaubt, was die Überwachungskamera im Auto an diesem Tag registriert hatte: Und so fragte sich denn an Urs’ Beerdigung auch jeder, was um alles in der Welt den umsichtigen Urs geritten haben konnte, als dieser auf einem Baustellenabschnitt auf der Autobahn (Geschwindigkeitslimite 60) mit hundert Sachen ungebremst in eine Teermaschine donnerte. Doch blenden wir zurück zum Tag X.

Urs, in feinem Anzug, die Aktentasche in der Linken, öffnet die Tür seines Skoda Fabia S-Line. Die Tasche wird auf dem Beifahrersitz deponiert. Urs legt den Gurt an, den Gang ein und fährt Richtung Ausgang der Parkgarage. Heute öffnet sich das ächzende Tor wieder einmal provozierend langsam. Urs trommelt aufs Lenkrad, schnauft hörbar aus «endlich, ging ja eine Ewigkeit» und drückt aufs Gas. Er muss hart auf die Bremse, bevor er auch nur auf die Strasse einbiegen kann: Ein wogend-schlarpender Teenie mit Stöpseln in den Ohren läuft auf dem Trottoir einfach vor Urs’ Autohaube. «Tubel! Chasch nid luege», wirft Urs ihm nach und tippt sich an die Stirn, «die Jugend von heute pennt mit offenen Augen» grummelt er. Der gähnende Teenie läuft weiter – hat weder etwas gesehen noch gehört – und Urs ist endlich auf der Spur, die Reifen quitschen anlässlich seines rasanten Manövers. Beim Kreisel in die nächste Seitenstrasse, die aufgrund parkierter Autos auf beiden Seiten ein Kreuzen zweier Autos verunmöglicht. Urs wird von Weitem ein Auto in Gegenrichtung gewahr. Anhalten kommt für Urs grad gar nicht in Frage, vielmehr drückt er extra auf die Tube und lächelt süffisant: «Soll der andre nur warten, dr Schnäller isch de Gschwinder». Die Stimmung steigt augenblicklich wieder, ein Punkt für Urs, yes!

Die Hochstimmung hält nicht lange an, im Gegenteil, Urs wird laut und stinkig. Eine Kreuzung mit vier Strassen, keine Signale, Rechtsvortritt also, weiss ja jedes Kind, hat man in der Fahrschule gelernt, aber eben, die einen haben ihren Ausweis im Lotto gewonnen. «Jetzt fahr endlich… gopfridstutz nomal, worauf wartet der eigentlich..! Du hast VORTRITT, Schlafsack. Nei!, jetzt lässt der noch einen von links vorbei, ist das zu fassen!!».  Urs versuchts, kann aber leider weder rechts (Halteinsel für die Fussgänger) noch links überholen (nochmals eine Halteinsel), ja sind wir eigentlich nur noch von solchen Hindernissen umgeben, stöhnt Urs und betätigt die Lichthupe. Es nützt alles nichts, wertvolle Minuten verstreichen, bis die leidige Kreuzung überstanden ist, der Zubringer Richtung Autobahn hinter sich gelassen werden kann, nachdem schnaubend noch zwei Linienbussen der Vortritt gewährt werden musste. Endlich 120, Urs – mittlerweile auf der Überholspur, die verlorene Zeit will schliesslich aufgeholt werden – nestelt am Tempomat herum, als ihm einer brüsk vor die Nase fährt, um einen andern zu überholen. Mannomann, der hat Nerven; «dann geh jetzt wenigstens wieder rechts rein, wenn Du überholt hast», kommentiert Urs gehässig und gestikuliert wild mit der Hand nach rechts, als könnte er dadurch das Hindernis vor sich einfach zur Seite schieben. Doch das Auto vor Urs hat anderes vor. Minutenlang fährt die «Tröte» – wie Urs den Fahrer schimpft – schräg links hinter dem zu überholenden Auto her; damit ist nicht nur die Überholspur blockiert, was Urs zum Kochen bringt, sondern auch rechts für Unmut gesorgt. Urs fährt aus der Haut, schimpft wie ein Rohrspatz und beginnt schliesslich drohend zu hupen. «Taub u blind die Pfeife», spuckt Urs die Windschutzscheibe voll und könnte den Vordermann auf den Mond schiessen. Als endlich ein Einsehen herrscht, Urs donnernd an der lahmen Ente vorbeizischt («e Frou am Stüür, isch ja logisch» kann man seinen düsteren Gedanken entnehmen), blitzt es. Denken Sie sich Urs’ Flüche am besten selber aus, Gift und Galle schmecken süss dagegen.

Urs schwitzt, ist auf 180 und ziemlich schlechter Laune. Bereits 20 Minuten unterwegs und noch kaum Weg hinter sich gebracht, taucht jetzt auch noch eine Baustelle auf, die ihn zu lächerlich-langsamen 60 zwingt: Hinzukommt, dass auf der ganzen Strecke weder Menschen noch Maschinen zu sehen sind, was Urs rasend macht. «Und das mit meinen Steuergeldern!», ereifert sich Urs und greift sich ans Herz, es sticht. Doch dafür bleibt keine Zeit, denn plötzlich drängelt da einer hinter ihm und sitzt quasi in seinem Kofferraum. Das kommt Urs nun definitiv in den falschen Hals. «So nicht, Bürschen mit Deinem Sch…Protzer-BMW! Du stellst Dich gefälligst hinten an». Urs ist fleckig im Gesicht und verringert seine Geschwindigkeit auf 40. Protzer lassen sich auf diese Weise aber nicht erziehen, sondern fühlen sich im Gegenteil herausgefordert! Und so schert der BMW kurzerhand nach rechts aus und will Urs auf diese Weise überholen. «Aha, Schlaumeier sind wir also auch noch» meint Urs wütend, zeigt dem Typ den Vogel und setzt Blei. Wäre ja noch schöner, wenn so ein Jungspund ihn rechts überholte, geht’s noch!

Urs betätigt abwechselnd Gas und Bremse und merkt nicht, dass sich in Kürze die Spuren trennen. Auch das rote Kreuz über seiner Spur hat er mehrfach übersehen, so gefesselt ist er in seinem Eifer, den ollen BMW-Schlitten am Vorbeikommen zu hindern. Urs fragt sich noch, warum es dunkel wird, an ein Tunnel auf dieser Strecke kann er sich eigentlich nicht erinnern…

6 thoughts on “Urs letzte Autofahrt

  1. Die Probleme von und mit Urs werden in absehbarer Zukunft durch die selbstfahrenden Mobile gelöst. Heureka. Und worüber und über wen wollen wir uns dann ärgern bitte?

    1. Lieber Toni
      Dein Aspekt hat wirklich etwas, da können wir uns auf entspanntes Fahren freuen, denn Anlass zu allfälligem Ärger sollte dann gar nicht mehr aufkommen. Heisst das auch, dass gar kein Dampf mehr in uns entwickelt wird, der so dringend ein Ventil benötigt hat? Wäre nicht schlecht. Deine Frage hat viel Augenzwinkern, regt jeden an, selbst darüber nachzudenken und sich eine Antwort zu geben, danke Dir dafür!

  2. Wenn meine Wunschvorstellung, meine gedankliche Wahrnehmung stimmt, wird der Urs ganz sicher nach dem schwarzen Tunnel in eine lichterfüllte, wundersame Welt eintauchen dürfen, die ihm zu gönnen ist…
    Was hattest du, liebe Manuela, wohl für einen Anstoss an Inspiration, als diese Geschichte über deiner Tastatur schwebte? Köstlich… Ich grüsse herzlich Franziska

    1. Liebe Franziska
      Ich teile denselben Wunsch für Urs…
      Zum Anstoss, Urs in eine solche Geschichte zu verwickeln: Als Verkehrsteilnehmerin, sei dies als Fussgängerin, Velofahrerin oder auch Autofahrerin bin ich immer wieder einmal mit einer Aggressivität konfrontiert, die mich verblüfft. Egal in welcher Form ich unterwegs bin, es wird mir oder andern der Vogel gezeigt wegen drei Mal nichts, Autofahrer ärgern sich über Velofahrer, Fussgänger rufen das A-Wort in alle Himmelsrichtungen, Drängler, Erzieher und Sauertöpfe sind von A nach B unterwegs und gleichzeitig offenbar geladen, die Frustrationstoleranz ist niedrig, sofort wirds heftig. Und ich fragte mich schon hundert Mal, womit das zu tun hat. Was macht der Verkehr auf der Strasse mit uns Teilnehmern? Auf dem Trottoir oder im Bahnhofgewühl nämlich, sehe ich solche Szenen nicht. Da würde mir nicht im Ernst ein Gegenüber gleich mit wüsten Worten zu verstehen geben, dass ich ihm im Wege stehe; solche Wortschwälle entstehen irgendwie nur im Innern von Blech, auf Drahteseln oder Zebrastreifen… komisch nicht? Ich stellte mir dann einfach vor, dass diese Menschen im Alltag wohl ganz anständig sind (deshalb der Name Urs), der Verkehr aber vielleicht einfach ein Ventil für was auch immer ist. Was da wohl ein Soziologe dazu sagen würde?
      Ganz liebe Grüsse in Dein schönes Daheim, herzlich Manuela

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert