Das Geheimnis des alten Capaul – eine Weihnachtsgeschichte in vier Teilen, Teil IV

 

«Noch zwei Wochen bis Weihnachten, Du kannst es wohl kaum erwarten!» meint Duri zu Léon, ohne dabei vom Schnitzen am neuen Holz-Brunnen für seinen Garten aufzublicken. «Dann kannst Du die Hänge runterflitzen mit dem Schlitten und im Iglu Fondue essen mit Deinen Schulkameraden», plaudert Duri weiter und sucht augenzwinkernd Blickkontakt mit Léon. «Mmmmh, was? Ja. Genau, die Hänge runterflitzen» kommt es unkonzentriert vom Blondschopf rüber, der auf dem Drehstuhl vor der Werkbank sitzt und mit dem Fuss Holzspäne auf dem Boden rumschiebt. «Hey, kleiner Mann, spucks aus, was ist Dir über die Leber gekrochen?» fragt Duri sich an die Werkbank lehnend und verschränkt erwartungsvoll seine Arme über dem Bauch.

«Da ist so ein Brief, den ich von Elsi habe und Gion, der mir seit einer Woche verschweigt, was er herausfinden will, ja und dann bin ich noch in Capaul reingelaufen und nun hat er den Brief von meiner Grossmutter also eigentlich von Elisabetta oder besser gesagt von Beiden und das ist eine Katastrophe, weil ich muss jetzt einfach hyperdringend herausfinden, was mit diesem Tunnel und Capaul los war, aber ich tappe im Dunkeln» schliesst Léon seine Ausführungen. Duri hebt die Augenbraue, schmunzelt wieder einmal ab der Wortwahl seines jungen Freundes, bemerkt aber auch dessen Miene und die kleine Sorgenfalte, welche sich auf Léons Stirn ausgebreitet hat. Das ist ernst, denkt Duri und sagt laut: «Léon, wir brauchen eine Stärkung und dann erzählst Du mir das alles nochmals der Reihe nach. Ich bin sicher, dieses Wirrwarr wird sich wunderbar auflösen, Du wirst sehen». Was wäre die Welt ohne Duri Schnetz und seine grossen dampfenden Tassen heisser Schokolade. Die Beiden sitzen mittlerweile gemütlich in Duris Küche und Léon beginnt von vorn beim Fund der Mauer hinter Duri Schnetz› Kellertüre und was dadurch alles ins Rollen kam, um schliesslich beim Zusammenstoss mit Capaul zu enden. «Ich kann es spüren, da ist etwas gründlich schief gelaufen zwischen Capaul und Elisabetta, aber was?», fragt Léon schliesslich und schaut Duri herausfordernd an. «Hör mal, ich weiss einfach Folgendes», entgegnet Duri. «Vor zwei Jahren kam eine deutsche Limousine gefahren, hielt an meinem Haus an und verharrte dort mehrere Minuten. Ich ging raus. Vielleicht haben die sich verfahren, dachte ich, klopfte an die Scheibe, um zu fragen, ob ich helfen könne. Ein alter Greis sass auf dem Beifahrersitz, der Fahrer war sehr jung und hinten sass nochmals ein Mann von jüngeren Jahren. Herr Doktor Starke wolle nur das Haus bestaunen, es sehe anders aus als vor Jahrzehnten als er noch im Dorf gewohnt habe, meinte der Fahrer. Sie würden anschliessend noch in die Kirche zu Don Giovanni gehen und dann in die Höhenklinik Davos zurückkehren», schliesst Duri, um noch anzufügen, er Léon solle mal bei Elsi fragen, wie Elisabetta zum Nachnamen geheissen habe, wer weiss, ob das ihr Vater gewesen sei, der da ins Dorf gekommen sei.

Und wieder einmal sitzt Léon in der Bäckerei. Irgendwie ein Déjà-vu findet er, wie er so im Sessel rumruckelt. Diesmal ist es der ehemalige Posthalter Paul, der eigentlich nur ein Brot kauft, aber eben noch den Schwatz abhalten will, der hier obligatorisch ist. Léon wird die Warterei zu fad und so schiesst er einfach dazwischen: «Entschuldigen Sie Frau Pfanner, wie hiess Elisabetta mit Nachnamen?». «Starke», gibt Elsi perplex zurück und schüttelt den Kopf, als Léon Danke rufend aus der Türe rennt. «Was war das denn» fragt Paul verdattert, «meinte der Junge die Doktorfamilie? Der kann sie doch gar nicht kennen, ist viel zu jung dafür». Elsi beschwichtigt, das sei wohl für die Schule wichtig gewesen, die würden sicher die verschiedenen Ärzte, die hier schon stationiert gewesen seien durchnehmen, auch die Anzahl Dorfbeizen, die geschwunden sei über die Jahre und solche Sachen; Lokalgeschichten eben. Elsi war schon immer begabt im Ablenken und so kehrt Paul zu seinem Schwatz zurück, obwohl nun nicht mehr so recht wissend, wo er stehengeblieben war.

Die folgende Woche verging wie im Flug. In der Schule wurden zwar fleissig Weihnachtsgeschenke gebastelt, doch ganz von übrigen Schul-Pflichten frei war diese Woche noch nicht:  Léon hatte einen Stoss Aufgaben und musste noch etwas in die Schulhefte gucken, bis ihm die Buchstaben vor den Augen tanzten. Auch anderswo wurden die Abende spät und vertiefte sich jemand in schreibmaschinengeschriebene Seiten: Gion hatte die Fährte aufgenommen im Polizeiarchiv. Er fand heraus, was ihm sein Vorgänger durch die Blume damals hatte sagen wollen: Im Tunnel gab es einen Einsturz infolge morscher Balken, wie zuerst angenommen wurde. Dabei begruben Felsbrocken Elisabettas Beine. Komplizierte Brüche und die Amputation des linken Beines waren die Folge. Der damals herbeieilende Arzt, Elisabettas Vater, gab später zu Protokoll, dass er beim Freiräumen seiner Tochter eines Balkens gewahr worden sei, welcher Einschnitte wie von einer Motorsäge angebracht gesehen habe. Es würde ihn nicht wundern, war im Protokoll zu lesen, wenn Capaul diesen Balken absichtlich behandelt hätte, um einem andern jungen Mann, der auch ein Auge auf Elisabetta geworfen habe, irgendwie schaden zu können, falls dieser die beiden in den Tunnel verfolgen würde. Diese Vermutung gab der Untersuchung eine neue Richtung und Capaul kam in den Fokus. Capaul, ein solches Narrativ bis zuletzt bestreitend, war leider ungelenk in seinen Aussagen und hatte keine Chance. Es stand das Wort des Talarztes, eines gebildeten Mannes gegen jenes eines verliebten Bauernsohns. Der Hinweis Wachtmeister Crameris, wie im Innern des Tunnels bei schwachem Licht und unter dem Druck persönlicher Betroffenheit, aber gebotener Geschwindigkeit der Rettung, auf solche Details habe geachtet werden können, blieb unbeachtet. Der ranghöhere Polizist im Amtskreise ging auch nicht auf die Bitte Crameris ein, die Holzbalken fachmännisch untersuchen zu lassen. Die Balken wurden ohne weitere Beachtung entsorgt. Und so nahm der Fall seinen Lauf, Capaul wurde verurteilt und brach unter diesem Urteil zusammen.

«Elisabetta wurde in einer deutschen Spezialklinik behandelt und verbrachte Monate der Rehabilitation an der Nordsee. Mehr war den Akten nicht zu entnehmen» berichtet Gion bei Punsch und Weihnachtsguetzli. Er hat Léon auf den Nachmittag am Samstag vor dem dritten Advent zum Zvieri eingeladen.  «Was für ein Justizpfusch!» regt sich Anna auf, die auch am Tische sitzt und gebannt zugehört hat. Léon will ebenfalls seinem Ärger Luft machen, doch Gion gebietet mit erhobener Hand Einhalt. «Ich habe noch ein wenig weitergeforscht und dabei meine Beziehungen in die Verwaltung spielen lassen» meint Gion, zieht ein Papier aus seiner Hemdtasche und drückt es Léon in die Hand. «Elisabetta Starke, Lilienstrasse 64, 12203 Berlin» liest Léon laut vor und pfeift durch die Zähne. «Du hast ihre Adresse herausbekommen! Sie lebt also noch!?» Léon springt vom Tisch auf und dreht sich im Kreise vor Freude.

Léon schlief wundervoll in der Nacht auf den dritten Advent. Beim Ministrieren in der Messe hingegen war er nur mit einem Ohr dabei. Don Giovanni sprach über Gerechtigkeit und Formalismus, manchmal müsse man den Buchstaben Buchstaben sein lassen, um dem Recht zum Durchbruch zu verhelfen. Léon fand das etwas schwierigen Stoff. Er überlegte deshalb fieberhaft, ob er Elisabetta schreiben und ihr mitteilen sollte, dass Capaul damals vielleicht gar nicht schuld war. Aber wollte sie Capaul überhaupt sehen nach so vielen Jahren? Und würde sie einem zehnjährigen Jungen glauben? Er dachte auch an Capaul und fand, dass mindestens ihm diese Erkenntnisse mitzuteilen waren, vielleicht gewann er dadurch noch so etwas wie seinen Frieden? «Léon, der Kelch!» flüstert ihm Don Giovanni eindringlich zu und holt ihn von seinen gedanklichen Ausflügen in die Kirche zurück. Später in der Sakristei fühlt Don Giovanni Léon auf den Zahn und dieser fasst dem Priester gegenüber zusammen, was er herausgefunden hat. «Was meinen Sie, soll ich Elisabetta schreiben und bei Capaul vorbeigehen mit diesen Nachrichten?» fragt Léon und ist gespannt auf Don Giovannis Antwort. Dieser zögert kurz, setzt sich dann und beginnt in Verletzung seines Beichtgeheimnisses Léon vom Gespräch mit Dr. Starke vor zwei Jahren zu erzählen.

Dicke Post, würden die Erwachsenen sagen, wenn sie gehört hätten, was Léon vernommen hat. Léon, Gion und Don Giovanni haben sich in der kommenden Woche getroffen, ihr Wissen ausgetauscht, einen Plan entworfen und bis auf einen Besuch alles erledigt, was es zu tun gab. Nun sitzen sie am Nachmittag vor Heilig Abend seit zwei Stunden bei Capaul in dessen Stube. Abwechselnd erzählen sie Capaul die einzelnen Bruchstücke dieser unglaublichen Geschichte, bis sie sich zu einem Ganzen zusammengefügt hat: Angefangen beim Brief von Elsi resp. Elisabetta, über die Erkenntnisse aus den Polizeiprotokollen, welche Capaul heftig in Aufruhr versetzten, ihm aber auch deutliche Linderung brachten, weiter zum Geständnis des greisen Dr. Starke, welcher von den manipulierten Balken erzählt hatte mit dem bedeutenden Unterschied zur offiziellen Version, nämlich dass diese von ihm selbst, in der Absicht Capaul Schaden zuzufügen, angebracht worden seien. Die Briefe von Capaul habe er seiner Tochter in der Folge vorenthalten und ihr stattdessen erzählt, dass Capaul keinen Kontakt mehr zu ihr wünsche, weil er sich für seine Tat so schäme. Er Dr. Starke habe sein restliches Leben lang an dieser Version festgehalten, es habe ihm aber mit Blick auf seine Tochter fast das Herz gebrochen, weil diese sich abgeschottet und niemanden mehr an sich herangelassen habe.

An dieser Stelle müssen die Drei Capaul erst durchatmen lassen, denn als dieser erkennt, was die Worte zu bedeuten haben, wird er abwechselnd von Erleichterung und gleichzeitiger Übelkeit heimgesucht. «Wie schrecklich für Elisabetta, sie glaubte sicher nie, dass ich für dieses Unglück verantwortlich war, musste sich aber wohl geschlagen geben, weil sie keinen meiner Briefe erhalten hat» meinte Capaul in ungewohnt weicher Stimme. «Gott sei Dank weiss sie nicht, dass sie recht hatte mit ihrer Überzeugung resp. dass es vielmehr ganz anders und eigentlich viel Schlimmer ist», schliesst der alte Mann. Eine Träne rinnt ihm die Wange runter. Es bleibt länger still in der Stube, bis Léon das Wort ergreift. «Herr Capaul, Elisabetta weiss alles. Ein Freund von Don Giovanni, der in Berlin arbeitet, hat sie besucht und ihr erzählt, was sie soeben von uns erfahren haben». Léon steht auf und drückt dem alten Capaul einen Brief in die Hände. Er ist an Capaul adressiert in einer Schrift, die dieser unter allen der Welt erkennen würde.

Es ist längst Abend geworden. Léon ist daheim bei seiner Familie und spielt mit seinen Geschwistern, Don Giovanni bereitet die Weinachtsmesse vor und Gion sitzt bei einem Glas Wein mit Anna am Tisch und lässt die vergangenen Wochen Revue passieren. Der alte Capaul hat in seinem Sessel vor dem Kamin Platz genommen, eine Decke auf den Beinen und öffnet Elisabettas Brief. Sie komme an Weihnachten in sein Dorf, schreibt sie. Sie habe ihr ganzes Leben lang nie aufgehört, an ihn zu denken, habe sich aber nicht getraut, ihm zu schreiben und sich vielmehr in die Arbeit gestürzt. Es sei zwar ein Schock, nach so vielen Jahren die Wahrheit über die damaligen Umstände zu vernehmen, letztlich sei sie hingegen dankbar zu wissen, dass sie sich auf ihn Capaul und ihr eigenes Urteilsvermögen habe verlassen können. Es wäre schön, wenn Sie ein paar Tage Zeit zusammen verbringen könnten.

Capaul lässt den Brief sinken, sein Gesicht hat einen weichen Zug angenommen. Weihnachten in diesem Jahr hat eine Zentnerlast von ihm genommen und ihm die Aussicht auf jenes Glück gebracht, das er vor so vielen Jahren für immer glaubte, verloren zu haben. «Ein paar Tage Zeit zusammen verbringen Elisabetta, darauf freue ich mich» flüstert Capaul vor sich hin und er nimmt sich vor, am nächsten Tag früh aufzustehen und so gut als möglich Ordnung in sein Haus zu bringen: Heilig Abend hin oder her, da wird der Hergott wohl ein Auge zudrücken können.

One thought on “Das Geheimnis des alten Capaul – eine Weihnachtsgeschichte in vier Teilen, Teil IV

  1. Liebe Manuela,
    Lieben Dank! Musste grad weinen. Du hast eine sehr spannende, wunderbare Geschichte geschrieben; habe alle Folgen auf einmal gelesen. Bin nun gespannt auf Deine nächste Erzählung! Herzlich Ann

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