Das Geheimnis des alten Capaul – eine Weihnachtsgeschichte in vier Teilen, Teil III

 

Vor zwei Tagen hat es in Léons Dorf geschneit; meterweise, sodass der Schneepflug mittlerweile drei Mal im Tag durch die engen Gassen fährt, um so etwas wie gangbare Wege zu schaffen. Auch die Dorfbewohner sind fleissig am Schaufeln oder den Schnee mit ihren kleinen Fräsen auf die sich bereits türmenden Schneewälme rund um die Häuser zu schleudern. Neben dem Schuhmacherhäuschen am Waldrand, wo Léon und seine Familie wohnen, ist ein solch hoher Schneekegel entstanden, dass Léon und seine Geschwister heute Samstag daraus einen Iglu bauen wollen. Es reicht dabei völlig aus, wenn sie einfach anfangen zu buddeln. Das wird ein Spass, denkt Léon, saust aus dem Haus und schnappt sich seine gelbe Schaufel, die ihm sein Vater diesen Winter gekauft hat.

Die Schauflerei ist anstrengend, doch die kleinen Bergarbeiter in ihren Skianzügen kommen gut voran. Léons Schwestern  klopfen den Schnee an den Wänden fest, sein jüngster Bruder fährt mit der grünen Schubkarre den ausgebuddelten Schnee aus dem Zugangstunnel und kippt ihn in den Bach. Wie sich Léon immer weiter in den Schnee gräbt und bereits eine ansehnliche kleine Kuppel erkennbar wird im Igluinnern, denkt er an den unterirdischen Tunnel und den Brief, den er von Elsi anvertraut bekommen hat. Seine Grossmutter hat ihm versprochen, den kostbaren Brief ins Deutsche zu übersetzen und so hat Léon das alte Dokument letzte Woche auf die Reise in die Rheinstadt geschickt. Jeden Tag nach der Schule hat er seiner Mutter nur eine Frage gestellt, nämlich ob Grossmutters Antwortbrief schon eingetroffen sei und wurde immer wieder enttäuscht. Dass das auch so lange dauern muss! Gestern endlich ist Post aus Basel gekommen. Die Warterei hat sich gelohnt, Gion wird staunen, wenn Léon ihm heute Nachmittag den Brief unter die Nase halten wird.

«Das ist ja ein Ding» meint Gion und pfeift durch die Zähne. Er und Léon sitzen in der Stube nebeneinander auf dem Sofa, vor sich eine Schale leckerer Weihnachtsguetzli und halbleere Punschgläser, daneben der übersetzte Brief. «Léon, das ist ja wie in Romeo und Julia mit dem Unterschied, dass niemand gestorben ist, die Beiden aber dennoch nicht zusammengekommen sind», ereifert sich Gion und trinkt den letzten Rest Punsch. «Was hör ich da von Romeo und Julia», fragt Anna, die durch den Pfiff von Gion neugierig geworden sich zu den Zweien in die Stube gesellt. Und so fasst Gion zusammen, was er durch Léon soeben erfahren hat. Elisabetta und Capaul hätten heiraten wollen, gegen den Willen des Vaters, aber mit heimlicher Unterstützung der Mutter von Elisabetta. Der Vor-Vor-Vorgänger von Don Giovanni, Pater Martin, sei auch schon eingeweiht und bereit gewesen, die Beiden zu trauen. Die administrativen Vorbereitungen seien ebenfalls bereits alle getroffen gewesen und die Zeremonie auf den ersten Mai-Samstag festgelegt worden. «All das hat Elisabetta in ihrem Brief an Capaul festgehalten unter Ausmalung ihrer Träume, wie das sein würde, wenn sie dann als Ehepaar zusammenleben könnten» , sagt Gion zu Anna gewandt, beisst in einen Spitzbub und runzelt gleichzeitig die Stirn. «Was ist, woran denkst Du», will Léon wissen, dem aufgefallen ist, dass Gion plötzlich ins Grübeln gerät. «Hmm», macht Gion nur, vertilgt schweigend einen Zimtstern und schweift in Gedanken an den Tag der Amtsübergabe auf dem Polizeiposten seines Tals zurück.

Damals empfing ihn sein Vorgänger Wachtmeister Crameri, ein geachteter Polizist, wenngleich auch etwas gefürchtet in den Dörfern. In der Amtsstube hinter seinem mächtigen, in die Jahre gekommenen Schreibtisch sitzend, führte er Gion in die offenen Fälle ein, qualmte dabei Pfeife und streute zwischendurch zur Auflockerung ein paar Anekdoten über die Stammgäste auf dem Posten ein. Schliesslich erzählte er ihm von einer unangenehmen Vernehmung vor Jahren, die in einem tragischen Schuldspruch wegen schwerer Körperverletzung endete, um damit abzuschliessen, ihm Gion, viel Erfolg auf seinem neuen Posten und etwas mehr Unnachgiebigkeit bei nicht ganz koscheren Fällen zu wünschen. Diese letzte Bemerkung sticht Gion eigenartigerweise grad besonders hervor, wie er über alles nachdenkt. Beim Verurteilten handelte es sich um Capaul, den erstgeborenen Sohn des Bauern mit dem grössten Hof weit und breit. Gion war zum Zeitpunkt des Geschehens als Aspirant in der Stadtpolizei Zürich tätig und damit nicht so am Ball. In den vereinzelten Telefongesprächen mit seiner Mutter aber, erfuhr er schon damals von den wilden Gerüchten, welche sich um den Bauernsohn und die hübsche Tochter des Arztes im Tal rankten. Und da war auch die Rede von Zweifeln, ob sich die Geschichte wirklich so zugetragen hatte, wie die offizielle Version dies erzählt haben wollte.

Nachdem ihm Gion mitteilt, er werde kommenden Montag in die Polizeiarchive steigen und ihm danach erzählen, woran er habe denken müssen, macht sich Léon etwas konsterniert auf den Weg nach Hause, denn weitere Informationen hat er nicht mehr aus Gion herausbekommen. Gion bläute ihm vielmehr vor der Haustüre noch ein, dass das unter ihnen bleiben müsse – «Berufsgeheimnis, Kollege» waren Gions konspirative Worte – was immer das auch heissen mochte.

Selbstvergessen, den Brief von Elsi resp. Elisabetta und jenen seiner Grossmutter in der Hand haltend und einen Schneeball vor sich her kickend, merkt Léon nicht, dass er geradewegs in Capaul reinläuft. «Kannst Du nicht aufpassen, Du Bengel» schnauzt ihn Capaul an. Vor Schreck lässt Léon die Briefe fallen und blickt in die blitzenden Augen von Capaul. Der schaut plötzlich so komisch, um sich dann nach den Papieren auf dem Boden zu bücken. Léon bleibt der Atem stehen. Er will die Briefe rasch vom Boden nehmen, Capaul aber ist schneller. Keiner sagt ein Wort. Capaul beginnt Elisabettas Brief zu lesen und bekommt weiche Knie. «Sie werden ganz weiss, Sie müssen sich setzen» ruft Léon verängstigt und zieht den alten Mann kurzerhand am Arm, um ihn aufs Bänkli unter dem Vordach des capaulschen Hauses zu dirigieren. «Woher hast Du diesen Brief?», flüstert nun Capaul mit zittriger, nicht unfreundlicher Stimme. Das kann ich ihnen nicht sagen, will Léon eigentlich erwidern, um sich dann sagen zu hören: «Von Elsi»! «Diese Diebin», schnaubt Capaul und richtet sich kurz auf, um augenblicklich wieder in sich zusammen zu fallen.

Was für ein Schlamassel, denkt Léon am Abend im Bett, wenn er an den Zusammenstoss mit Capaul denkt. Er wollte auf dem Bänkli schon ansetzen zu einer wilden Erklärung, als Capaul plötzlich abwinkte, sich erhob und ohne Worte ins Haus verschwand. Ich muss Gas geben und diese Sache klären, sagt sich Léon und schläft mit diesem Vorsatz erschöpft ein.

 

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