Am kommenden Mittwochnachmittag klingelt Josephine bei Wygarts an der Türe, sie will Thomas besuchen. Ihr Vater hat sie mit dem Auto hingebracht, denn sie hat etwas im Handgepäck, das zu tragen ziemlich umständlich gewesen wäre. Frau Wygart öffnet die Tür. „Guten Tag Josephine, schön, dass Du gekommen bist. Soll ich Dir die Tasche abnehmen?“, zwinkert Frau Wygart, sie weiss natürlich, was sich darin versteckt. „Guten Tag Frau Wygart“, antwortet Josephine und streckt Frau Wygart die schwere Tasche entgegen. „Wie geht es Ihnen? Ich soll Sie schön grüssen von meinen Eltern“, Josephine folgt Frau Wygart ins Haus. Es gehe ihr ganz gut, danke der Nachfrage und auch für die lieben Grüsse von zu Hause. Vor Thomas’ Türe stellt Frau Wygart die Tasche ab und lässt Josephine alleine ins Zimmer gehen. „Hallo Finny“, lacht Thomas ihr entgegen, „was bringst Du dieses Mal mit?“, will er wissen. Josephine zwinkert ihm zu und meint, während sie die Tasche auf das Bett wuchtet lässig: „Etwas! Finde es heraus“. Thomas setzt sich auf im Bett, und runzelt die Stirn. Er sieht heute richtig gut aus, das dünne Gespenst, rote Bäckchen und zu Berge stehende Haare, das könnte ein heiterer Nachmittag werden, denkt Josephine.
„Also“, beginnt Thomas, „Du hast mir Winnetou persönlich angeschleppt oder einen multifunktionalen Toaster, der gleichzeitig auch Popcorn und Marshmellows fabriziert“, Thomas läuft bei dieser Vorstellung das Wasser im Munde zusammen. „Nein, nein und nein“, lacht Josephine, „es ist etwas gaaaaanz anderes!“. Nero wird die ganze Geheimnistuerei zu blöde und er faucht und miaut nun mal ordentlich in das Dunkel der Tasche hinein. „Du hast mir Deine Katze mitgebracht, Finny, das ist ja ganz lieb von Dir!“, Thomas’ Augen glänzen, als Kater Nero erhobenen Hauptes über die Bettdecke stolziert und ihm um die Arme streicht. „Sieh nur, er mag Dich! Nero lässt sich nicht von jedem streicheln, er ist da ein wenig wählerisch“, erklärt Josephine und freut sich, dass die Überraschung gelungen ist.
Thomas und Nero scheinen sich sofort bestens zu verstehen. Den ganzen Nachmittag lang liegt Nero entweder zusammengerollt auf Thomas’ Bauch oder legt sich ihm wie einen Schal um den Nacken, streicht ihm um die Füsse oder streckt sich auf seinen Beinen aus. Derweil spielen Josephine und Thomas ein Kartenspiel und reden auch über Thomas’ Krankheit; Josephine fragt ihm Löcher in den Bauch und Thomas gibt unkompliziert und geduldig Antwort. Es wird schon dunkel, als Josephine aufbrechen muss: Das Nachtessen bei ihren Grosseltern wartet.
„Du Thomas, meinst Du, Du kannst am Vierten Advent auch in die Altstadt auf den Stadtplatz kommen? Es gibt ein Konzert und Weihnachtsplätzchen und meine Laterne scheint im Stall von Bethlehem“, fragt ihn Josephine und hofft inständig, dass Thomas’ Gesundheitszustand diesen besonderen Ausflug möglich machen wird. „Finny, ich geb mir Mühe, was glaubst Du denn, ich will mir den Auftritt Deiner Laterne doch nicht entgehen lassen!“, Thomas tippt Josephine augenzwinkernd an die Schulter. „Fein, dann sehen wir uns am Sonntag, altes Haus“, und die beiden lachen gradeheraus über diesen schrägen Ausdruck. Josephine winkt Thomas nochmals zu und erzählt Frau Wygart von dieser Idee, während sie Richtung Ausgang gehen. „Eine wunderbare Idee Josephine, hoffen wir auf Sonntag“, antwortet Frau Wygart und übergibt die Katze Josephines Vater, welcher im Flur bereit steht, um Josephine zu ihren Grosseltern und Nero wieder nach Hause zu bringen.
Tante Mi und Josephine sitzen bei Grossmutter in der Küche und helfen das Nachtessen zuzubereiten. Im Ofen brutzelt seit einigen Stunden ein gefüllter Truthahn vor sich hin und verströmt einen Duft nach Pflaumen, knusprig-würziger Haut und zartem Fleisch, dass es eine Freude ist. Tante Mi schnipselt Gemüse und Josephine rührt Salatsauce wie ein Weltmeister. Grossmutter lässt Eierspätzli in der Bratpfanne goldgelb anbraten und filetiert zwischendurch Orangen: Zum Dessert gibt es Orangensalat mit Datteln und einem Schuss Grand Marnier (für Josephine stellt Grossmutter eine Portion ohne Geist – wie sie zu sagen pflegt – beiseite).
„Du und Grossvater müsst nächsten Sonntag unbedingt auf dem Stadtplatz bei der grossen Tanne vorbeischauen, es wird Weihnachtsmusik gespielt und eine Krippe kann bestaunt werden“, sagt Josephine beiläufig, als Grossmutter die gerüsteten Kopfsalatblätter, halbierte Radieschen und Kresse in die Salatschüssel gibt. „Aber gern, kommt ihr denn alle auch?“, fragt sie zurück, leert die Eierspätzli in eine vorgewärmte Schüssel und stellt diese in den Wärmeofen. „Ja, wir kommen alle“, erklärt Tante Mi, welche das Gemüse auf einer Platte verteilt und danach den Truthahn aus dem Ofen hievt. Grossmutter legt die Kochschürze beiseite und klatscht in die Hände: „Husch husch zu Tisch, wir wollen doch nicht, dass uns dieser leckere Vogel noch davonfliegt“, lacht sie und zusammen tragen die drei Frauen das Nachtessen ins Esszimmer, wo Grossvater bereits die Kerzen angezündet und dunklen Wein in die schönen Gläser gefüllt hat.
Josephine könnte stundenlang an einem solchen Tisch sitzen, wenn Tante Mi ihre lustigen Anekdoten aus der Kanzlei zum Besten gibt, Grossvater und Grossmutter ein paar Geschichten aus dem Anfang ihres gemeinsamen Lebens erzählen oder sie alle auf dem Sofa sitzen und in Fotoalben stöbern und über längst aus der Mode gekommene Frisuren lachen. Doch jeder Abend geht einmal zu Ende und Josephine kuschelt sich ins Bett, während Grossmutter ihr ein Lied singt und sie zum Schluss des Tages noch ein Adventsfenster öffnen am Kalender neben dem Bett. „Gute Nacht, träum süss von sauren Gurken“, hört sie Grossmutter noch sagen.
Die restliche Woche verbringt Josephine damit, eine besonders schöne, etwas grössere Laterne als die andern drei zu basteln. Die halbe Weihnachtsgeschichte möchte sie auf die Pergamentwände bannen, leider ist dazu der Platz zu knapp. Na dann eben nicht, denkt Josephine und hat plötzlich einen glänzenden Einfall! „Nerolein, wie wärs, wenn ich die Flötenfrau, Thomas in seinem Bett und Herrn Bergmann mit seinem Hut auf die Laterne bringe? Vielleicht noch einen grossen Bethlehemstern?“, Nero ist entschieden dafür, er schnurrt und streckt die Pfote zur Bestätigung nach Josephine aus. Mit Feuereifer geht Josephine ans Werk, erst am Samstagmorgen ist sie fertig mit ihrer Arbeit. Und wohin nun mit der Laterne?
Da ruft ihre Mutter aus dem Wohnzimmer: „Josephine, willst Du Papa und mir helfen, den Weihnachtsbaum zu schmücken?“. Und ob Josephine das will! „Komm, Nero, lass uns Kugeln und Sterne, Glimmer und Engelshaar und vieles mehr ans Bäumchen hängen“, sprichts und nimmt den friedlich schlummernden Kater auf den Arm und geht die Treppe hinab ins Wohnzimmer. In allen Formen und unterschiedlichen Rot-Orangetönen, schlicht oder aufwändig verziert, liegen Weihnachtskugeln in diversen Grössen fein säuberlich in Schachteln da, bereit an den grossen Baum gehängt zu werden. Josephine drapiert das Engelshaar, ihr Vater steckt weisse Kerzen in die Kerzenhalter und bald schon glitzert der Baum wunderschön. „Fehlt noch der Schlusspunkt“, sagt ihre Mutter und reicht Vater den mit Goldglitter und kleinen funkelnden Perlen versehenen Spitz. Josephines Vater steigt auf die Leiter, denn der Baum ist hoch und selbst Vater zu klein, dem Weihnachtsbaum die Krone ohne Hilfe der Leiter aufzusetzen. Ihr Vater reckt seinen Arm Richtung obersten Zweig, als ihm der Spitz entgleitet und am Boden zerschellt.
Alle drei stehen wie erstarrt und betrachten den Scherbenhaufen unter dem Baum. Da beginnt Josephines Vater zu lachen und meint vergnügt: „Nun müssen wir wohl improvisieren, was ja öfters vorkommt in diesem Haus, nicht wahr?“. „Wie wäre es“, hat Josephines Mutter plötzlich eine zündende Idee, „wenn wir deine vierte Laterne oben auf dem Tannenspitz platzieren würden?“. Josephine und ihr Vater nicken und schnurstracks verschwindet Josephine in ihr Zimmer, um die Laterne zu holen. Wieder im Wohnzimmer wird überlegt, wie die Laterne zu befestigen ist. „Grossvater hat doch immer eine Lösung, ich ruf ihn an“, sagt Josephine und wählt bereits dessen Telefonnummer. Nach abenteuerlichen Erklärungen, die dann schliesslich Josephines Vater entgegennimmt und umsetzt, ruht die Laterne auf einem improvisierten Podest zuoberst auf dem Weihnachtsbaum. Sieht anders aus als sonst, denkt Josephine und malt sich die Gesichter von Tante Mi und ihren Grosseltern aus, wenn sie diese Einrichtung erblicken werden.
Am Morgen des Vierten Advent glitzert es rund um Josephines Haus; in der Nacht sind in der kleinen Stadt Unmengen Schnee gefallen. Es ist ganz still und Josephine klettert aus dem Bett und klebt am Fenster, um die verträumte Landschaft zu betrachten. Die Äste an den Sträuchern haben sich ein Frostmäntelchen übergezogen und die Vögel plustern sich auf, um schön warm zu haben. Ob Thomas den Vögeln im Garten auch zuschauen kann? Hoffentlich hat er heute einen guten Tag, wünscht sich Josephine, dann können sie zusammen den grossen Baum mit der Krippe anschauen gehen auf dem Stadtplatz.
Im Haus rührt sich noch niemand, Josephine geht leise die Treppen hinab und beginnt, den Frühstückstisch zu decken. Sie weiss auch genau, wie die Kaffeemaschine in Gang zu bringen ist und schon bald steigt ein köstlicher Kaffeeduft in die oberen Stockwerke und lockt die Eltern in die Küche. „Könnte es sein, dass da jemand unbedingt frühstücken will, um danach wer weiss wohin zu gehen“, neckt ihr Vater Josephine und hebt seine Tochter lachend in die Luft.
Nach einer Ewigkeit, findet Josephine, ist endlich Aufbruchstimmung und die Drei stapfen durch den frischen Schnee Richtung Stadtplatz. Die Grosseltern, Tante Mi und Laurent warten bereits vor der grünen Tür des Hauses ihrer Grosseltern. „Grossvater!“, ruft Josephine laut und rennt dem Vierergrüppchen entgegen. „Schön, dass ihr alle kommt“, begrüsst sie die wartende Schar. „Nun könnt ihr Glühwein trinken und die Krippe anschauen und ich kann Weihnachtplätzchen essen, so viel ich möchte, nicht wahr Grossmutter?“. Diese nickt ihr bejahend zu und setzt ihr die verrutschte Mütze zurecht.
Als sie alle beim Weihnachtsbaum ankommen, steht bereits eine grosse Menschenschar um die Krippe herum, bestaunt den geschmückten Baum oder unterhält sich fröhlich bei einem Glas Glühwein. Neben dem Baum in schöner Formation steht das kleine Orchester, von welchem Herr Bergmann gesprochen hat. Als die Musiker zu spielen beginnen und die schönen Klänge in die Schneeluft schicken, sieht Josephine plötzlich die Flötenfrau etwas abseits stehen. „Grossvater schau dort drüben, die Flötenfrau, von der ich Euch erzählt habe“, Josephine deutet mit der Hand in Richtung der Frau. Diese hat Josephine soeben erkannt und winkt ihr zu. Josephine winkt freudig zurück. „Josephine“, ihr Vater zupft sie am Ärmel, „hast Du Deine Laterne schon gesehen“, fragt er und schaut in Richtung des Stalles, in welchem die besagte Laterne hängt, um am Abend dann strahlend die Stallszenerie zu erleuchten. „Oh“, entgegnet sie, „sie sieht wirklich hübsch aus dort; wir müssen am Abend nochmals zum Baum kommen, dann sehen wir, wie sie leuchtet. Darf ich am Abend nochmals kommen?“, bittet Josephine ihre Eltern. „Das darfst Du, Josephine“, gibt ihr Vater zur Antwort.
Josephine isst Weihnachtsgebäck, trinkt Punsch und geht mit Ihrem Vater mehrmals um den Baum herum. Leider kann sie Thomas nirgends finden. Schade, dass er zu müde ist. Sie lässt etwas traurig den Kopf hängen. Die Musik und die Plätzchen, die ganze Stimmung hätte ihm doch sicher gefallen. Schliesslich brechen sie alle zu Grossvater und Grossmutter’s Haus auf, um dort eine feine Suppe und Würstchen zu essen. Nach dem Dessert sitzt Josephine mit Lenny vor dem Kamin und blättert in einem Buch. „Können wir nicht Thomas anrufen, Mamma, und fragen, ob er vielleicht am Abend kommen kann?“, Josephine schaut ihre Mutter erwartungsvoll an. „Weißt Du, Josephine, er wäre bestimmt gekommen, wenn er die Kraft dazu gehabt hätte. Du kannst ihn vielleicht in den nächsten Tagen besuchen gehen und ihm von heute Abend erzählen?“, versucht ihre Mutter Josephine etwas aufzuheitern. „Das ist nicht dasselbe“, grummelt Josephine vor sich hin, legt das Buch weg und steht unschlüssig im Raum.
Da klingelt das Natel von Josephines Mutter. Es ist Frau Wygart, sieht Josephines Mutter sofort. Sie geht aus dem Wohnzimmer in den Flur hinaus und nimmt den Anruf entgegen. Als sie wieder ins Wohnzimmer zurück kommt und aufs Sofa sinkt, nimmt sie Josephine auf den Schoss und sagt leise, dass Thomas gestorben sei. Er sei heute morgen quicklebendig, fein angezogen in der Winterjacke im Flur gestanden und habe fröhlich erklärt, er wolle in die Stadt zum Weihnachtsbaum, Josephines Laterne schauen gehen. Sie seien bereits zur Tür hinaus und durch den Vorgarten Richtung Gartentor unterwegs gewesen, als Thomas einfach zusammengesunken sei.
Josephine kullern Tränen die Wangen hinab, sie schmiegt sich fest in die Arme ihrer Mutter und weint eine ganze Weile. „Er wollte doch noch ins Kino und Popcorn essen und nach Paris auf dem Eiffelturm einen Drachen fliegen lassen“, schluchzt Josephine und ist untröstlich.
Am Abend will Josephine nichts wissen davon, nochmals in die Stadt zum Weihnachtsbaum zu gehen. Sie sitzt mit Ihrem Vater in der Bibliothek und wartet, dass ihre Mutter von Wygarts wieder nach Hause zurückkehrt. Ihr Grossvater hat ihr am Mittag noch erklärt, dass Thomas in einem Moment gestorben sei, in welchem er sich auf etwas Wunderschönes gefreut habe und deshalb voller Energie gewesen sei; das sei inmitten all’ dem Traurigen etwas Tröstendes. In einem ganz kleinen Eckchen ihres Herzens kann Josephine sich darüber freuen, doch der grosse Teil ihres Innern ist traurig und findet das Ganze furchtbar ungerecht. „Wozu habe ich ihm eine Laterne gebastelt, wenn Thomas jetzt nicht mehr hier ist“, fragt Josephine ihren Vater. „Du hast ihm eine grosse Freude damit gemacht, Josephine“, ihr Vater streicht ihr sanft über den Kopf, „und auch mit Deinen Besuchen hast Du seine Zeit mit Schönem gefüllt und ihn zum Lachen gebracht. Das hat ihm und auch Dir gut getan!“. Das hingegen stimmt, muss Josephine eingestehen. Was hatten sie beide doch gelacht in diesen wenigen Stunden, in denen sie sich kennengelernt hatten. Thomas konnte herrlich komische Witze erzählen und Leute imitieren. Er hatte es gerne, wenn Josephine auf seinem Bett sass und ihm erzählte, was sie alles erlebt hatte seit dem letzten Besuch. Und wie er es liebte, wenn Nero sich auf seinem Bauch bequem zusammenrollte! Und als er dann herzhaft in den Aniskringel biss und ihm übel wurde und er trotzdem grinste über das ganze Gesicht.
War es vielleicht genau das, wovon die Geschichte vom Schumacher Martin handelt, die Grossvater ihr erzählt hatte? Seine Stimme klingt ihr wieder im Ohr, wie er sagte:
„Es braucht nicht viel, kein kostbarer Besitz, keine besonderen Fähigkeiten, keinen Titel, keinen Rang, um andern Menschen ein warmes Licht in der Dunkelheit, eine helfende Hand in der Not, ein geduldiges Ohr im Lärm der Zeit zu sein. Was es braucht ist Liebe und entschiedenes Handeln, wenn der Moment da ist“.