Das Geheimnis des alten Capaul – eine Weihnachtsgeschichte in vier Teilen, Teil II

 

Seit Léon mit seiner Familie im Sommer ins schmucke Dorf gezogen ist, faszinieren ihn zweierlei: Seine neue Aufgabe als Ministrant in der Kirche und Duri Schnetz. Vordergründig hat das Eine mit dem Andern rein gar nichts am Hut. Aber eben, Léon wäre nicht Léon, hätte er den inneren Zusammenhang nicht bald schon zutage gefördert.

Wie er eines Tages im Spätsommer beim Heimspazieren von der Schule an Duris Haus vorbeischlendert, hört er ihn in der Werkstatt hämmern und beschliesst kurzerhand, auf einen «Schwatz» – wie er von den Grossen immer hört –  vorbeizuschauen. Er schiebt das Gartentor auf und wird von Tschipi schwanzwedelnd begrüsst und begeistert angestupst. «Tschipi, wo ist Duri?», fragt er den gutmütigen Labrador, welcher sogleich losspurtet Richtung Werkstatt und dann kurz zurückblickt zu Léon, ob der auch nachkommt.

Duris Werkstatt lassen Kinderaugen glänzen und Profis weinen: Es gibt kein Werkzeug, das Duri nicht hätte. Nicht  einmal Duri selbst ist sich im Klaren, wie umfangreich sein Arsenal an Bohrern, Schraubenschlüsseln, Fräsen, Hobelmaschinen, Lötkolben, Nägeln, Schaufeln, Maurer- und Elektrikerutensilien, Trennscheiben, Wasserwaagen und so weiter genau ist. Jedenfalls gibt es eigentlich keine Handwerkergattung, die sich im Notfall nicht bei Duri bedienen könnte. «Hallo-o» ruft Léon in die Werkstatt und setzt sich auf Duris Winken hin auf einen freien Schemel.  «Na Du kleiner Mann, aus die Maus im Schulhaus?» zwinkert Duri seinem Besucher zu. «Nun musst Du wohl noch ein paar nette Hausaufgaben erledigen, nicht?», sagts und schiebt eine Maurerkelle samt Kübel und einem Sack Kalk zur Seite, sodass auf der Werkbank ein Plätzchen frei wird, damit Léon seinen Schulranzen auspacken kann. Aus dem Schubladenstock links der Werkbank zieht Léon die Weltkarten-Matte hervor, die ihm als Unterlage dient. «Ein paar Wörter in der Einzahl und Mehrzahl muss ich schreiben», meint Léon und öffnet sein Schulheft.

Die Beiden sind ein eingespieltes Team geworden. Léon erledigt seine Hausaufgaben am Liebsten zusammen mit Duri in dessen Werkstatt. Macht einfach mehr Spass als zu Hause. Zudem lenken ihn dort seine Geschwister zu arg ab und dann wird das gefühlt Mitternacht, bis er endlich alles in sein Heft gekritzelt hat.

Was für Wörter denn das sein müssten, will Duri wissen. «Mit einem bestimmten Anfangsbuchstaben oder einfach so frisch von der Leber weg»? «Wörter mit einem T müssen es sein», gibt der Blondschopf auf dem Schemel zur Antwort und legt schon mal den Kopf schief. Und so schleift und hämmert Duri weiter an seinem Metallstück herum, während sein junger Freund nach Wörtern sucht. Tür und Tunnel hat er schon gefunden, Traum ist ihm soeben eingefallen und nun stockt es ein wenig. «Was machst Du da eigentlich», will Léon mit Blick auf Duris Gegenstand wissen. Duri erklärt ihm, dass er eine alte Tür im Keller mit einem neuen Beschlag versehen wolle, der bisherige sei ziemlich verrostet.

Wo denn die Türe hinführe, will Léon wissen und da erzählt ihm Duri eine unglaubliche Geschichte. Von einem unterirdischen Tunnel, der im Keller seines Hauses beginne oder ende, je nach dem, wie man das betrachte. Dass dieser unter dem halben Dorf hindurchgeführt habe direkt in die alten Gemäuer der Kirche. Ein Fluchtweg sei dies gewesen, um sich vor Angriffen einfallender Plünderer zu retten. Vor vielen Jahrzehnten sei das Tunnelende in seinem Keller aber zugemauert worden, er Duri habe keine Ahnung, ob überhaupt noch etwas vom Tunnel bestehe, oder dieser eingefallen oder gar zugeschüttet worden sei. Léons Augen sind immer grösser geworden und es brennen ihm hundert Fragen auf der Zunge. Wo in der Kirche der Tunnel ende, ob Duri als Kind den Tunnel noch mit eigenen Augen gesehen habe, wer denn den Eingang zugemauert habe. Aber Duri kann ihm dazu nicht viel sagen. «Musst Elsi fragen, ihr Onkel hat vor uns in diesem Haus gewohnt und hat dem Erzählen nach den Tunnel von unserer Seite her verschlossen», meint Duri nur und legt das Werkzeug auf die Bank. «Komm, wir gehen die Tür und was dahinter ist, mal anschauen, danach trinken wir eine schöne, heisse Schokolade und dann wirst Du wohl heimkehren müssen», sagt Duri im Hinausgehen und hastig wirft Léon seine Siebensachen in den Schulranzen und stolpert Duri hinterher.

Léon konnte an diesem Abend kaum einschlafen, so aufgeregt war er über die Entdeckung. Die Tür knarrte beim Öffnen und direkt dahinter stand eine aus Rundsteinen und Pflästerung erstellte Mauer. Léon malte sich bis spät in die Nacht aus, wie es hinter der Mauer aussah und konnte es kaum erwarten, Elsi in den nächsten Tagen zu besuchen, um sie mit seinen Fragen zu löchern.

Eine Woche später dann konnte Léon endlich den seiner Ansicht nach längst fälligen Besuch bei Elsi in der Bäckerei absolvieren. Seine Hoffnung, Elsi alleine in der Bäckerei anzutreffen, fiel rasch in sich zusammen, wie er zur Tür reinkam. Im Sessel beim Fenster sass Theo – ein Dorforiginal, das wenn einmal losgelassen, nicht mehr aufhörte zu quasseln, schlimmer als ein Wasserfall. Er biss gerade genüsslich in ein Brioche, ein paar Krumen landeten auf seinem karierten Hemd und andere auf dem Boden. Ebenfalls am Einkaufen, sich aber nicht entscheiden können zwischen Nussgipfeln, Linzertorte oder doch Champagnertruffes, Frau Derungs, die Frau des Schulabwarts. Léon rollte mit den Augen, stand mal auf dem rechten, dann wieder linken Bein wie ein Storch und befürchtete schon, Wurzeln schlagen zu müssen,  als Frau Derungs doch noch den «Rank» resp. das entsprechende Gebäck für den Abend fand und endlich mit Sack und Pack die Bäckerei verliess: Im Schlepptau Theo, mit dem sie draussen eine Camel light zu qualmen gedachte. «Puh», Léon wischte sich den imaginären Schweiss von der Stirn, liess sich auf den Sessel plumpsen und trug dann Elsi sein Anliegen vor. Und er wurde nicht enttäuscht.

Elis kam aus dem Erzählen nicht mehr heraus; es war lange her,  seit zuletzt über die alten Geschichten gesprochen worden war. Nebst verschiedenen Schauerepisoden aus der Kiste der Überlieferungen, trug ihm Elsi plötzlich mit leiserer Stimme eine wirklich tragische Episode vor, deren Hauptrolle der alte – damals blutjunge, über beide Ohren verliebte Capaul – und eine ebenso verliebte, zartbesaitete, aus gutem Hause stammende Elisabetta spielten. Capaul habe sich von diesem Schicksalsschlag nie wieder erholt, habe sich in sich zurückgezogen und sei seit diesem Ereignis 1958 immer kauziger, unnahbarer und letztlich ungeniessbar geworden. Was denn genau geschehen sei, wollte Léon wissen. Ein Unfall mit Folgen im unterirdischen Tunnel, welcher sich Capaul nie verziehen habe, noch weniger die Eltern von Elisabetta, erklärte die Bäckersfrau mit mittlerweile geröteten Wangen. «Warte, ich habe noch einen Brief von Elisabetta an Capaul, den mein Onkel im Tunnel gefunden hat», Elsi verschwand in ihrer Wohnung und kam kurze Zeit später mit einem vergilbten Dokument zurück. «Ich weiss aber nicht, was drin steht», meinte Elsi bedauernd und übergab Léon das kostbare Schreiben, «er ist in der alten deutschen Schrift verfasst».

Léon zappelte schon eine ganze Weile aufgeregt auf dem Sessel herum, sprang jetzt auf und versicherte Elsi, er werde das Geheimnis um Capaul, den Tunnel und Elisabetta lüften. Sich bedankend verliess er die Bäckerei – es war mittlerweile dunkel geworden – und lief eilends nach Hause.

Das war der Start einer regelrechten Odysee. Léon verbrachte in den folgenden Wochen Stunden bei Don Giovanni, dem hiesigen Priester, der ihm nicht nur zeigte, wo der unterirdische Tunnel von der Kirche her zugänglich war und es bis heute noch ist, sondern den entscheidenden Tipp zur allmählichen Lichtung des Nebels um das Geheimnis des Capaul gab. Dabei verstiess Don Giovanni gegen das Beichtgeheimnis und ein weiterer Dorfbewohner machte sich ohne Erlaubnis in alten Registern kundig. Was wiederum Léon in die Lage versetzte, die entscheidenden Schritte zu tätigen, um den damals tragischen Ereignissen auf den Grund zu kommen und erst noch Capaul im hohen Alter zu seinem Frieden verhelfen zu können.

 

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