Das Geheimnis des alten Capaul – eine Weihnachtsgeschichte in vier Teilen, Teil I

 

 

Zu sagen, Capaul sei alt, ist stark untertrieben. Capaul ist uralt, wenn nicht fast scheintot. Immer schlecht gelaunt, sein Gesicht zu einer Grimasse verzogen, als kaue er eben grade eine besonders saure Zitrone, läuft er schimpfend oder böse um sich blickend durch die Gassen. Alter Griesgram ist noch die freundlichste Bezeichnung, welche die Dorfbewohner für ihn übrig haben. Im konstanten Nörgeln und bissig Kommentieren bringt er es auf Olympianiveau; kurz, ein Mann ohne jede Fröhlichkeit, frei von Humor, dafür voller Untugenden.

Zum Leidwesen der Schulkinder liegt sein Haus am Schulweg und so flitzt die Dorfjugend denn meist rasch an diesem vorbei, um ja nicht in die Fänge des Alten zu geraten. Sein Hund verfilzt, der Garten voller Unkraut, die Bäume ungeschnitten und wild draufloswachsend, das Haus verlottert und die Terasse morsch, strahlt auch seine unmittelbare Umgebung wenig heilvolles Ambiente aus. Capaul ist das schnurz, er schert sich einen Deut um der Leute Gerede. Es scheint manchmal gar, er pflege diese Unordnung zum Trotz und Ärger seiner Nachbarschaft.

Wie dem auch sei, nichts deutete in diesem Winter darauf hin, dass dieser Giftzahn eines Besseren belehrt werden würde und ein Wandel im Anzug stand, dessen Kraft Capaul unter Mobilisierung aller Gegenwehr nichts mehr entgegen zu setzen haben würde.

Doch eins nach dem andern. Schauen wir uns im Dorf noch etwas um und lernen ein paar weitere Figuren kennen, die in dieser Geschichte ihre Rolle spielen werden.

Da ist zum Beispiel Elsi Pfanner, irgendwo um die sechzig, aber eigentlich alterslos. Sie führt die letzte Bäckerei des Tals, wo nicht nur Brot und Gebäck, sondern auch Schleckzeug in grossen Gläsern, Klatschhefte, Hosenträger, Mehl und Zucker aus Holzschubladen geschaufelt und auf einer antiquierten Waage abgewogen erstanden werden können.

Das Geschäftslokal atmet den Charme von anno dazumal, als Elsis Eltern 1950 die Bäckerei gegründet haben. Eine alte, schmucke Theke mit Vitrine, die süsse Köstlichkeiten zur Schau stellt, daneben thront die rumpelnde Registrierkasse. Hinter der Theke die Holzfächer und Körbe, in denen die duftenden Brote und Brötchen in allen Formen verführerisch die Kundschaft in ihren Bann ziehen. Linkerhand hundert Schubladen und Glasfächer vom Boden bis zur Decke, in denen Krimskrams ruht und auf Käufer wartet. Ein schmiedeeiserner Schirmständer beim Eingang, ein kleiner gepolsterter Sessel vor dem Schaufenster, auf dem sich ältere Kundschaft gerne einmal niederlässt für den Schwatz mit der Dame des Hauses. Und rechts vom Eingang die Tür zur Backstube, die ab und an mit Schwung geöffnet wird und den Blick ins Reich des Bäckers freigibt.

Elsi selbst ist dem Erscheinungsbild nach einem 40-er Jahre Katalog entstiegen; toupiertes gefärbtes Haar, adrette Kleidung, darüber ein sauber gebügelter Schurz, Schuhe mit Absätzen, dezent geschminkt, lächelt sie einer lieben Grossmutter gleich den ganzen Tag gütig die Kundschaft an und verkauft dem Teufel ein Ohr ab. Ihr Mann, der Mehl-Sepp, wie man ihn nur nennt, ist blass wie das Material, das er täglich in der Früh bearbeitet. Neben seiner Elsi wirkt er etwas matt, hat hingegen ein Herz aus Gold und backt die besten Grittibänze und Lebkuchen nördlich des Äquators.

Anna und Gion Carigiet, ein pensioniertes Ehepaar, wohnen auf halbem Weg zwischen dem verwilderten Capaul und der eben beschriebenen Bäckerei in einem modernen Chalet mit verträumtem Garten und einer etwas zu gross gewachsenen Tanne. Sie aus dem Unterland vor 40 Jahren der Liebe zu Gion wegen ins Bergdorf gezogen; ein Freigeist und leidenschaftliche Pilzsammlerin.

Anna wünscht sich jeder als Nachbarin; sie ist grosszügig, hilfsbereit, talentierte Köchin, belesen und sieht immer noch aus wie Brigit Bardot in den besten Jahren. Sie weiss das aber nicht, was sie umso sympathischer macht. Ihr Mann Gion ist geborener Bergler, passionierter Jäger und ehemaliger Dorfpolizist. Wer jetzt an einen stieren, wortkargen, dickbauchigen, kleinkarierten, rotbackigen Briefmarkensammler im Stile Polizist Wäckerlis denkt, ist auf dem Holzweg. Nur schon, weil Anna wegen so einem «Tröchni» wohl kaum Zürich den Rücken gekehrt und in die wilde Schönheit des verträumten Dorfes gezogen wäre.

Nein, Gion ist ein braungebrannter Schrank von einem Mann; mit Händen wie «Grienschaufeln» und einem sonnigen Gemüt und stechend blauen Augen. Diesen Augen entgeht nichts und wo er hinkommt, verstummen die Menschen, nicht vor Angst, aber vor Respekt. Gion hat, was man eine «natürliche Autorität» nennt und lässt sich von Äusserlichkeiten nicht ins Bockshorn jagen. Apropos; die Jagd ist ihm wie all’ seinen Jägerkollegen heilig. Wehe, wenn sich da früher ein komplizierter Fall in die Wochen der Hochwildjagd verirrte; da konnte Gion ziemlich grantig werden. Ja und wenn er für dumm verkauft wird, dann lernt man ihn von seiner unnachgiebigen, fast schon erbarmungslosen Seite kennen und wünscht sich, man hätte von Anfang an die Wahrheit gesungen.

Ebenfalls am Schulweg zwischen Kirche und Capaulschem Haus, wohnt Duri Schnetz. Ein «Chlüteri» mit goldigen Händen, wie ihn Gion liebevoll nennt. Duri flickt und repariert von Aebi-Rasenmähern über vorsintflutliche Radioapparate bis zu kreischenden Motorsägen alles, was ihm unterkommt. Daneben baut er seit drei Jahren sein Elternhaus um. Er trägt blaue Überhosen (manche munkeln, dass er die gar zum Schlafen kaum je auszieht) und raucht Pfeife, die selbst in kaltem Zustand oft in seinem Mundwinkel hängt, ansonsten aus der Sacktasche seiner Hose lugt. Duri frönt darüberhinaus leidenschaftlich demselben Hobby wie Anna: Er liebt es zu kochen und noch viel mehr, zu essen. Im Unterschied zu Anna jedoch bleibt bei Duri einiges davon hängen, was ihn kein bisschen betrübt, sondern eher seinen Seelenfrieden befördert. Duri hat seine Frau früh verloren, zwei erwachsene Kinder, die ihn oft und gern besuchen sowie eine schwarze Labradorhündin namens Tschipi, die ihm auf Schritt und Tritt durchs Leben folgt.

Nebst weiteren Persönlichkeiten, die das 200-Seelendorf bevölkern und zu einem bunten Teppich an Charakteren weben, wollen wir das Augenmerk noch auf einen blonden Knirps von gerademal acht Jahren lenken. Ein verträumtes, neugieriges Kind ohne Falsch und Hinterlist. Vielmehr gesegnet mit entwaffnender Naivität, gepaart mit blitzschneller Kombinationsgabe und einem wachen Geist.

Léon ist das älteste von fünf aufgeweckten Kindern, die an Originalität seinesgleichen suchen. Léon ist mit seiner Familie im ehemaligen Schuhmacherhaus am Waldrand eingezogen. In seinem Zimmer hortet er eine umfangreiche Steinsammlung, will nächsten Sommer in einer Ecke des Gemüse-Gartens seiner Mutter Tomaten ziehen und streift gerne als Detektiv durch das Dorf. Wer Léon einmal begegnet ist, kann nicht anders, als ihn ins Herz zu schliessen und seinen kindlichen, erstaunlich cleveren Gedanken zu lauschen. Léon fürchtet sich im Unterschied zu andern Kindern kein bisschen vor Capaul; ob das nur damit zu tun hat, dass er ihn noch gar nicht richtig kennen gelernt hat oder vielmehr mit dem Geheimnis, auf das er gestossen ist?

 

 

 

 

 

2 thoughts on “Das Geheimnis des alten Capaul – eine Weihnachtsgeschichte in vier Teilen, Teil I

  1. Liebe Manuela

    Herzerwärmend in diesen nebligen Tagen – diese Menschen kann ich mir gut vorstellen und bin gespannt auf die Fortsetzung deiner Weihnachtsgeschichte vom alten Capaul.

    Urs

    1. Lieber Urs

      Danke für Deine Worte und auch mündlichen Rückmeldungen. Ich habe verschiedene Mails und Sprachnachrichten zu den beiden ersten Teilen der Geschichte erhalten; irgendwie können wir glaube ich alle solche Momente brauchen, die ans Herz gehen. Und das Wetter sowie die Temperaturen leisten hier manchmal noch einen zusätzlichen Beitrag… liebe Grüsse aus dem Schnee, Manuela

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